tickets
Einzelkarte Kurzfilm: 5 € / ermäßigt 3 €
Einzelkarte abendfüllend: 10 € / ermäßigt 8 €
Einzelkarte Überlänge: 12 € / ermäßigt 10 €
Festivalpass: 40 €
Festivalpass ermäßigt: 30 €
Festivalpässe sind nur im Festivalzentrum oder im Kino erhältlich. Der Zugang fur Festivalpass-Inhaber*innen zu unseren Veranstaltungen kann nur bei nicht ausverkauften Vorstellungen zugesagt werden.
Der Zugang zur Ausstellung, den Werkstattgesprächen und der Buchvorstellung ist gratis.
Online sind Tickets fur das Metropolis erhältlich, für das B-Movie und 3001 sind Onlinereservierungen möglich. Im Lichtmeß und den fux Lichtspielen gilt lediglich Abendkasse.
Akkreditierung
Wer sich fur das Festival akkreditieren will, meldet sich bei info@dokfilmwoche.com. Wir erheben dafur eine Gebuhr von 30 €. Der Zugang zu unseren Veranstaltungen kann nur bei nicht ausverkauften Vorstellungen zugesagt werden. Akkreditierungen können im Festivalzentrum oder nach Absprache abgeholt werden.
kinos



fux Lichtspiele
Bodenstedtstraße/ Ecke Zeiseweg,
Eingang Kubus, 1. OG rechts
Nur Abendkasse


Festivalzentrum mit Infocounter und Ausstellung ›Die fünfte Wand‹
Dienstag bis Samstag, 10 bis 20 Uhr, Sonntag 12 bis 18 Uhr
frappant Galerie in der fux eG
Eingang Kubus, Zeiseweg 9, EG Treppenhaus c
https://frappant.org/galerie/
Panels am Vormittag
Fasiathek des ARCA e. V. in der fux eG
Eingang Kubus, Zeiseweg 9, 3. OG Treppenhaus b
Mittagspause
cantina fux & ganz in der fux eG
Eingang Kubus, Zeiseweg 9, Eingang Kubus, EG links
dokfilmclub
SLOT in der fux eG Mittwoch bis Sonntag, ab 22 Uhr // Eingang Kubus, Zeiseweg 9, UG
dokfilmclub Line-up:
Mi: 21 Uhr > Afro-SLOT – todays club sounds from africa
Do: 20 Uhr > LOTS of… Bar & Platte
Fr: 23 Uhr > Zitterpartie mit semi nice, soniccollide, zitroni
Sa: 23 Uhr > DJ Argumentepanzer aka Ted Gaier
So: 22 Uhr > sega lee, kran, gwen wayne
texte
Einführung ins Filmprogramm: Wir sind wie unsere Filme: nachdenklich, wütend, analytisch und wertschätzend
Die Auswahl unseres Filmprogramms ist ein mehrstufiger Prozess des Sehens, Sprechens, Streitens und Abwägens. Und so sind wir, wie unsere Filme, nachdenklich, wütend, analytisch und wertschätzend, bewegen uns zwischen verschiedenen Welten und Zeiten, suchen nach Differenz und Annäherung. Wir haben ein Programm zusammengestellt, dass dazu einlädt, über die Welt nachzudenken, empathisch mit dem Unbekannten zu sein und sich auf neue Perspektiven einzulassen.
Wir erinnern an Tamara Trampe und haben langjährige Wegbegleiter*innen ihrer Arbeit eingeladen. Die in der Sowjetunion geborene Tochter einer ukrainischen Krankenschwester arbeitete für die DEFA, war eine besondere Filmemacherin und inspirierende Dramaturgin. Wir erinnern auch an den kürzlich verstorbenen Martin Heckmann, der vielen Hamburger Filmschaffenden in der Postproduktion zur Seite stand und zeigen seinen Film ›Ulli‹, der 2014 bei uns Premiere feierte. Klaus Wildenhahn hat wie immer den passenden Film schon gemacht: ›Der Hamburger Aufstand von 1923‹ jährt sich zum 100. Mal.
Wir freuen uns sehr, dass Peter Nestler und sein Kameramann Reiner Komers mit neuen Filmen zu Gast sind und nehmen das zum Anlass, mit einem kleinen Schwerpunkt den Blick auf das Leben von Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland zu weiten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Proteste im Iran haben wir dem Kollektiv Woman* Life Freedom Hamburg eine Carte blanche gegeben und sind gespannt, was sie mitgebracht haben. Wir greifen die 2021 begonnene Diskussion um postkoloniale Perspektiven im Dokumentarfilm mit einer kleinen Reihe wieder auf. Weitere Wiedersehen gibt es mit Travis und Erin Wilkerson sowie mit Sylvain George, herausragenden Protagonisten*innen eines politisch engagierten Kinos: jeweils mit Filmen und erweiternden Werkstattgesprächen.
Und nun freuen wir uns auf eine ganze Woche Festival mit euch, auf das gemeinsame Sehen, Sprechen und – vielleicht – Streiten.
Gespräch zum 20. Jubiläum mit den Gründern Rainer Krisp, Rasmus Gerlach und Eva Kirsch: „Abweichende Filme finden"
Die Camcorder-Revolution und die dokumentarfilmwoche hamburg
Anfang Januar 2023 trafen sich Rainer Krisp, Rasmus Gerlach und Eva Kirsch, um für die Jubiläumsausgabe über die Entstehung des Festivals zu sprechen. Rainer hat als Mitgründer des 3001 Kinos und der dokumentarfilmwoche vor allem die ersten Jahre des Festivals miterlebt, bevor er nach Berlin übersiedelte. Rasmus ist von Anbeginn dabei, Eva kam vor zwei Jahren zum Festivalkollektiv hinzu. Die beiden Gründungsmitglieder teilen im Folgenden ihre persönliche Sicht auf die Entstehung der dokumentarfilmwoche mit ihr. Auszüge aus einem Gespräch voller Anekdoten, die hier nicht alle Platz finden konnten.
Eva: Meine erste große und gleichzeitig sehr simple Frage an euch ist folgende: Wann kam zum ersten Mal die Idee auf, in Hamburg ein Dokumentarfilmfestival zu organisieren?
Rainer: An das Datum erinnere ich mich nicht mehr genau, aber ich weiß, dass damals in der Bundesrepublik, neben so etwas wie ›Bowling for Columbine‹, Dokumentarfilme aufgetaucht waren, die im Verhältnis zu den Jahrzehnten davor viel Aufsehen erregten. Wir haben hier im 3001 Kino eine relativ schwierige Zeit gehabt, weil wir als kleines Einzelkino davon abhingen, umsatzstarke Filme zu finden und einzusetzen. Wenn das nicht klappt, rutscht man schnell ins Gefährliche ab. Ich erinnere mich noch sehr deutlich, als wir unsere erste Dolby-Anlage installiert haben, da habe ich bei Salzgeber ›Blue Note – A Story of Modern Jazz‹ gebucht, ein Film über das Blue-Note-Jazzlabel. Und nicht nur, aber bestimmt auch wegen unserer neuen Dolby-Anlage war das Kino richtig geil, und es kamen viele Leute, ich glaube, der Film war 14 Tage lang ausverkauft. Die Umsatzzahlen haben uns richtig Mut gemacht und auch die Gespräche, die sich aus dem Film ergaben. Ich hatte immer den Gedanken im Hinterkopf, die Dokumentarfilmseite auszubauen. Denn außer dem Metropolis oder mal hier und da im Abaton gab es keine Einsatzkinos für »erwachsene« Dokumentarfilme. Im Prinzip haben wir dann relativ viele Dokumentarfilme gezeigt über das Jahr, alles was uns gefallen hat und den Anspruch erfüllt hat, nicht nur eine Reportage oder mehr oder weniger unkritische Biografie zu sein. Wir wollten gern Filme zeigen, die das Leben erforschen. In dieser Zeit dann lernte ich auch Rasmus kennen, der einen sehr guten Film mit dem schönen Titel ›Unity, Putzi und Blondi‹ gemacht hatte, und ich konnte feststellen, dass auch hier in unmittelbarer Nähe eine ganz interessante Szene entstanden war. Rasmus kam dann mit seiner Idee von der Mini-Disc-Revolution …
Rasmus: … die Camcorder-Revolution!
Rainer: Das war eine Zeit, in der sich auch die Filmproduktion verändert hat. Du musstest nicht mehr teure und schwere Kameras mieten und kaufen, du konntest mit einem Camcorder aufregende Filme machen. Das ist mein Teil, jetzt sag du mal!
Rasmus: Also für mich war die Situation die, dass ich ja von Anfang an beim Rote-Flora-Kino tätig war. Deswegen waren wir, obwohl das Flora-Kino immer in einer großen gesellschaftlichen Isolation lebte, eigentlich Nachbarn vom 3001 Kino. Es kamen hauptsächlich Dokumentarfilme auf die Flora-Leinwand, und so ist es bis heute geblieben. Unsere Idee war, das 3001 anzusteuern, weil das wenigstens ein richtiges Kino war – zwar als Genossenschaft geführt –, aber wenigstens fühlte es sich wie ein richtiges Kino an und nicht wie in der Flora, wo man immer die Leinwand und den Ton vorher aufbauen muss und jede Vorführung ein Unikat ist. Deswegen war ich so froh, euch hier anzutreffen.
Eva: Das heißt, nur ihr beide zu Beginn? Oder wie groß war die Gruppe am Anfang?
Rasmus: Es gab erst mal keine Gruppe, wir haben das als Duo gemacht.
Rainer: Angefangen! Wir haben uns aber gleich bemüht, auch andere Leute einzubeziehen – also der Camcorder-Revolutions-Begriff, der spielt hier eine ziemlich große Rolle. Es gab damals so etwas wie ein Revival der Ideen von Anfang der 70er Jahre, als solche Filme wie ›Allein machen sie dich ein‹ (1971) entstanden sind. Es gab eine Atmosphäre, da wurden Filme produziert, die Bewegungsfilme waren, ohne klassische Reportagen zu sein. Da ging es nicht darum, dass man schießende Wasserwerfer und prügelnde Bullen sieht, sondern dass eine Art Analyse dahintersteckt, dass dahinter mehr Gedanken gesammelt werden, die beispielsweise das Phänomen des Widerstands gegen die Atomkraft richtig erkennbar werden lassen. Für mich war das auch auf einer anderen Ebene wichtig, weil ich dachte, wir haben ein kleines Kino, und es gibt auf Bundesebene Prämien für herausragende Filmprogramme. Wir haben 10.000 Euro im Jahr zusätzlich für unser Budget gekriegt, nur weil wir ein paar Dokumentarfilme gezeigt und entsprechende Veröffentlichungen gemacht haben. Im Grunde war das eine Art Subvention. Und so sind Rasmus als Produzent, Regisseur und Autor und ich als jemand, der eine Spielmöglichkeit zur Verfügung stellen konnte, zusammengekommen – wir waren sozusagen natürliche Verbündete. Aber es kamen dann schnell auch andere dazu, zum Beispiel Julia Cöllen und Felix Grimm.
Rasmus: Und etwa ab der sechsten Ausgabe wurde die Gruppe dann größer, um die zwölf Personen sind in der Regel dabei seitdem. So verteilten sich die Aufgaben auf mehr Leute, auch ein bisschen in der Art, alle machen alles: ein handgemachtes Festival. Das entwickelte sich dann hin zu einer Art Kollektiv, im Selbstverständnis.
Eva: Gab es von Anfang an auch internationale Produktionen, die ihr eingeladen habt, abgesehen von Filmen mit regionalem Bezug? Und wie war das mit der Anwesenheit der Filmschaffenden? Das ist heute für mich eines der Herzstücke des Festivals: Dass möglichst alle, deren Filme gezeigt werden, auch anwesend sein sollen und es um diesen Austauschraum Filmfestival geht. Wie war das damals?
Rainer: Damals waren viele da. Wir haben die Filme auch zum Teil genau so ausgesucht. Wir hatten kein Budget und schon gar kein Gästebudget. Wir mussten schon aufpassen, dass wir die Mindestgarantien irgendwie aufbringen können. Es war von Anfang an klar, das wird ein großes Problem. Damit verbaten sich zum Beispiel ausländische Gäste komplett. Also wenn sie nicht sowieso hier waren und in Residenz, dann konnten wir sie nicht herholen.
Rasmus: Ja und dann haben wir von Anfang an immer Klaus Wildenhahn dazugeholt.
Rainer: Den hast du dazugeholt!
Rasmus: Klaus Wildenhahn ist als Nachbar hier immer schon im Gespräch gewesen, weil Jens Meyer vom 3001 Kino ein Student von Klaus war. Und irgendwie ist es uns gelungen, ihn hier oft ins Kino zu locken. Er war auch bei der ersten Ausgabe der dokumentarfilmwoche hamburg dabei, weil er sich für so etwas interessiert hat und auch die Duisburger Filmwoche von Anfang an miterlebt und teilweise mitgestaltet hatte. Wir konnten immer seine Filme umsonst zeigen, und das spielte für uns als Festival natürlich schon auch eine Rolle.
Rainer: Zumal Klaus Wildenhahn ein klassischer Vertreter des Direct Cinema ist, also der Art Filme zu machen, in denen der Autor und Regisseur sich so gut wie gar nicht einzumischen versucht. Das fand ich immer eine tolle Theorie. Für mich eine Art Ersterlebnis im Dokumentarfilmbereich war ›Nanook of the North‹, der Film von Robert Flaherty aus den 20er Jahren. Der war schon sehr ursächlich für den Rest der Dokumentarfilmgeschichte. Er hat eine Inuit-Familie porträtiert, und das ist natürlich alles auch gestellt, aber es gibt unglaublich packende und interessante Szenen. Klaus Wildenhahn wiederum hat Filme hier auf dem Kiez gemacht und sich dieses Direct-Cinema-Prinzips bedient. Rasmus hatte engen Kontakt mit ihm und hat ihn in den ersten drei oder vier Ausgaben ins Programm gebracht. Damit hatten wir einen prominenten, weit über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannten Autorenfilmer. Und dann gab es auch den Klaus-Wildenhahn-Preis.
Rasmus: Und vor allen Dingen 13 Jahre hintereinander, neben den Veranstaltungen bei der dokumentarfilmwoche, den Klaus-Wildenhahn-Geburtstag im 3001, bei dem auch Navina Sundaram öfter zu Gast war.
Eva: Ich finde es spannend, dass sich gerade zwei Verbindungsstränge zeigen, von dem was ihr erzählt zu dieser Jubiläumsausgabe: Einerseits die Navina-Sundaram-Ausstellung und andererseits der Film, von dem du erzählt hast: ›Nanook of the North‹. In unserem Eröffnungsfilm leiten die Gedanken des Regisseurs Jan Peters über ›Nanook of the North‹ seinen eigenen Film ›Eigentlich eigentlich Januar‹ ein. Und er spricht auch über Inszenierung und das Dokumentarische. Aber um noch mal zur Festivalgeschichte zurückzukommen: Die ersten Ausgaben liefen ausschließlich im 3001 Kino. Und wie ging es weiter?
Rainer: Vielleicht ist es interessant, noch mal über unsere Intention vom Anfang zu sprechen. Also, es gab in Deutschland Dutzende Filmfestivals, aber damals nur drei reine Dokumentarfilmfestivals nämlich das Dokfest München, die Duisburger Filmwoche und DOK Leipzig. Das war die Zeit, in der dieser Boom aufkam, von dem ich vorhin erzählt habe, mit Filmen wie denen von Michael Moore. Da dachte ich: Wir müssen das unterstützen. Dafür war ein reines Dokumentarfilmfestival als Idee nicht schlecht. Wir hatten auch einen gewissen Ehrgeiz, wir wollten eigentlich wachsen. Wir wollten an Bedeutung und Gewicht gewinnen. Ohne ein offizielles Budget kannst du das nicht hinkriegen. Deswegen waren wir bemüht, uns rechtzeitig auch um Fördergelder zu kümmern. Wir hatten das Glück, dass in Hamburg Wahlen waren und mit den Grünen eine neue politische Kraft auftauchte. Die konnten wir um einen ersten minimalen Haushaltstitel angraben. Das Filmfest Hamburg hat, glaube ich, etwa das 15-Fache von dem bekommen, was wir gekriegt haben. Aber immerhin, das war noch eine Zeit, da dachte ich: „Lass uns wachsen“ – und daher kam auch die Idee mit dem Preis: Wenn du jemals kuratierst, stellst du fest, dass die Verleiher als Erstes fragen: „Gibt es denn auch einen Preis?“ Den haben wir dann auch finanziert bekommen.
Rasmus: Was das Hinzukommen der anderen Festivalkinos anging: Erst mal haben wir Martin Aust vom Kommunalen Kino Metropolis gewinnen können. Es gab schon lange die Idee, dass in Hamburg eigentlich ein Dokumentarfilmarchiv fehlte. So kam Martin Aust dazu und die Kinemathek Hamburg, die das Metropolis und das Filmarchiv betreibt.
Rainer: Ich erinnere mich wieder. Der Zentral Film Verleih – für den ich gearbeitet habe – wurde eingestellt, weil wir nicht auf Video umschalten konnten, und 16-mm-Projektionen sind praktisch out gewesen. Wir haben dann das Zentral-Film-Archiv – das ein relativ umfangreiches 16-mm-Archiv war – ans Metropolis-Archiv übergeben, und in dem Zusammenhang lag es nahe, dem Metropolis die Frage zu stellen: Wollt ihr euch nicht beteiligen? Und Martin hatte für alle Anregungen von außen immer ein offenes Ohr. Das war 2008 bei der fünften Ausgabe.
Rasmus: Und gleichzeitig hatte Carsten Knoop als Kinomensch vom Lichtmess die Idee und den Wunsch, dass man doch auch da die dokumentarfilmwoche machen könnte. Das hat sich ganz natürlich ergeben. Und drei Jahre später kam dann noch das B-Movie als Kino dazu.
Rainer: Und wo passt das Savoy rein?
Rasmus: Das war damals nur dabei, weil das Metropolis umgebaut wurde!
Eva: Sehr bemerkenswert finde ich, dass dieses Festival es über die Jahre immer wieder geschafft hat, sowohl größere Positionen und Namen als auch den Underground zu versammeln. Ich weiß ja, wie heute in unserer Programmierung größere Produktionen ihren Weg ins Programm finden. Aber wie war das damals, hing das sehr mit Rainers Kontakten als Distributor zusammen?
Rainer: Wir hatten zum Beispiel auch mal einen Werner-Herzog-Film, und in der ersten Ausgabe war Ulrich Seidl mit ›Jesus, du weißt‹ zu Gast, was für die erste Festivalausgabe natürlich beachtlich ist. Wir hatten auch ein paar andere Sachen dieser Art dabei. Rasmus war als Ur-Punk aus der Hafenstraße wiederum eine lokale Anknüpfungsperson. Ich finde eben immer noch, dass im Unterschied zum Spielfilm im Dokumentarfilm aus wenig viel gemacht werden kann. Bei Dokumentarfilmen gibt es gute Filme, bei denen du siehst, dass der Etat mehr oder weniger aus dem Ärmel geschüttelt wurde, zumindest war es damals noch so. Wie es heute ist, das müsst ihr wissen. Um noch mal auf das Beispiel ›Jesus, du weißt‹ zurückzukommen: Damals hatte sich Seidl schon bemerkbar gemacht mit außergewöhnlichen Dokumentarfilmen. Die waren auch immer schon ein bisschen teurer. Und meine Idee war, die Verleiher dazu zu verführen, ihre Vorpremieren zu zeigen. Und dann gab es noch die Idee mit den Dokumentarfilmverleihern: Im zweiten Jahr haben wir zum Beispiel ein Porträt des Real-Fiction-Filmverleihs gemacht. Die hatten einen neuen Film mitgebracht und kamen als Gäste nach Hamburg. Wir wollten Verleiher würdigen, die sich um den Dokumentarfilm besonders verdient gemacht hatten. Dazu gehörte für mich auch, bei den Namen eine Etage höher zu gehen, selbst wenn du die nicht präsentieren kannst.
Eva: Aber wie hat sich das mit dem Festivalteam weiterentwickelt? Mich interessiert dabei: Wie ist es überhaupt eine größere Gruppe – ein Kollektiv – geworden? Was waren das für Leute, die das über die Jahre gemeinsam quasi ehrenamtlich organisiert haben?
Rainer: Da muss ich mal überlegen … Das sind natürlich alles Nerds. Die kommerzielle Seite ist bei uns nie ins Gespräch gekommen. Es war einfach klar, wir machen das, weil wir das wollen und nicht weil es unseren Lebensunterhalt ermöglicht oder zumindest stützt. Viele oder alle Leute hatten irgendwas mit Film und Filmemachen zu tun. Ich beispielsweise als Distributor beziehungsweise Kinobetreiber. Und ab der fünften Ausgabe waren wir in drei Kinos, wir brauchten einfach mehr Leute, mehr helfende Hände. Wie diese Gruppe sich geformt hat? Ich hatte den Eindruck, von selbst und vor allem durch persönliche Verbindungen, also sehr informell.
Wir haben dann einen Versuch gestartet, das Festival zu vergrößern, aber auch besser auszustatten. Mit diesem Versuch war verknüpft, um den Verleihern ein bisschen Zucker zu geben, einen Preis auszuloben. Der war mit 2000 Euro dotiert, und das ist natürlich kein Preis, den irgendein normaler Filmemacher als bedeutsam erachtet. Und dann ging es wieder ein bisschen in die andere Richtung, weil wir erkannt haben: Es gibt eben keine großzügigen Förderer. Es gibt knauserige Behörden, und die Antragsarbeit, die dahintersteckt, ist ziemlich anstrengend. Wir dachten, das schaffen wir besser, indem wir unsere Kassen plündern. Der Gründungsprozess ging zu Ende, als wir feststellten, so ein Preis ist eigentlich viel zu kontrovers, um dem Festival zu helfen. Das ist, glaube ich, eine Zäsur gewesen. Also der Versuch, ich schätze bei Ausgabe vier oder fünf, das Festival auf ein höheres Niveau zu bringen, das ging nicht.
Eva: Ich verstehe, warum es diesen Preis gab und auch die verschiedenen Sektionen wie »Unformatiert« oder »Horizont«. Aber ich würde gern mehr über diesen Moment der Abkehr vom Wettbewerb und von den Sektionen hören, die es ja auch bei der ersten Ausgabe noch nicht gab.
Rasmus: Außer Specials, das gab es schon. Die Sektion, die neben den Specials bis heute existiert, ist die Hamburg-Abteilung, die jetzt dokland hamburg heißt.
Rainer: Stimmt, bei der ersten Ausgabe war es noch nicht unterteilt. Das war eine der Maßnahmen, um ein bisschen Ordnung reinzubringen. Es gibt eine Menge Anmeldungen, wenn du das mal ausschreibst, und um es etwas zu ordnen, haben wir uns überlegt, wie sektionalisiert man ein Programm, das dann fast 50 Filme in einer Woche zeigt. Ich fand das sehr gut. Es ist aber auch etwas, das mit dem Umfang des Festivals zu tun hat. Ich würde nicht sagen, dass man aus jedem Jahrgang, der der dokumentarfilmwoche zugeschickt worden ist, Sektionen hätte machen müssen. Das ist auch zufällig: Wo landen die Themen, wer reicht ein? Wie lang sind die Filme? Wie gut sind die Filme und so weiter … Die Sektionen gehören für mich noch zu der Idee, das Festival auszubauen. Später sind sie ganz gute Ordnungsfaktoren geworden. Man muss ein Festival aber nicht in tausend Sektionen wuchern lassen. Für mich gehört diese Aufteilung zu dem, was wir später dann gelassen haben: Die Idee, aus einem kleinen, in lediglich einem Kino stattfindenden Festival ein größeres Dokumentarfilmfestival für Hamburg zu machen. Es geht eben nur ein kleineres, was ich auch gut finde inzwischen.
Eva: Das heißt, es gab damals einen offenen Einreichungsprozess, im Rahmen dessen sich Leute mit ihren Filmen bewerben konnten, und dann aber trotzdem noch Filme, die ihr anderweitig auf dem Schirm hattet und dann eingeladen habt. Heute gibt es nur noch eine offene Ausschreibung für dokland hamburg. Aber ihr habt damals einfach alles angeschaut, was geschickt wurde?
Rainer: Ich will jetzt nicht über alle Videos – das waren ja damals noch Kassetten – referieren, aber genau, wir haben uns sehr viel angeguckt.
Rasmus: Wir waren wirklich ziemlich offen. Also wir hatten zum Beispiel einmal diesen Film über die Obdachlosen in der Mönckebergstraße dabei. Das war eine VHS-Kassette, die wir gesichtet haben, und dann nachher, als es darum ging, den Film eben hier aufzuführen, stellte sich heraus, dass der ganze Film nur eine VHS-Kassette war, und die haben wir dann aber trotzdem auch gezeigt.
Rainer: Das gehörte dazu. Es ging nicht darum, technisch sorgfältigst aufbereitete Filme zu zeigen. Wir hingen immer noch an dem Gedanken der Camcorder-Revolution. Das muss man insofern dialektisch sehen: Also einerseits, weil es nicht anders ging, andererseits, weil es auch ein unbeackertes Feld war, wo gerade etwas entstand. Es gab hier in Hamburg viele Bewegungsmenschen. Die Hafenstraße als Nukleus, die Flora als zweiter Schwerpunkt. So weit ich weiß, war Rasmus als Punk schon in der Hafenstraße aktiv.
Rasmus: Ja, wir hatten ja bei der ersten Ausgabe auch ein Hafenstraßen-Special.
Rainer: Das hat auch mir sehr gefallen. Ich bin für die ursprüngliche Revolte der 70er Jahre ein bisschen zu jung gewesen, aber ich habe mich schon an den Rändern aufgehalten. Ich bin mit Filmen wie ›Queimada – Insel des Schreckens‹ (1969) von Gillo Pontecorvo sozialisiert worden. Das waren revolutionäre Spielfilme auf einem extrem hohen Niveau, auch künstlerisch. Und das gehört wiederum zu dem Teil von mir, der gesagt hat, wir machen das 3001 nicht in der Mönckebergstraße, sondern im Viertel, und wir geben uns Mühe, eine Lücke zu füllen, die das Abaton mal mehr oder weniger beackert hatte, als Werner Grassmann noch ein jüngerer Kerl war. Dabei war immer schon klar, dass du mit Filmen, die vom Mainstream allzu weit Abstand nehmen, kein Geld verdienen kannst. Wir bewegten uns also gezwungenermaßen in einer entkommerzialisierten Umgebung. Das fand ich auch für die dokumentarfilmwoche wichtig, dass wir möglichst radikale Filme finden, die übrigens, wenn mich nicht alles täuscht, immer schwerer zu finden sind.
Rasmus: Ja, dafür sind wir jetzt ja auch eine große Gruppe, die ihre Fühler in viele Sphären streckt.
Eva: Als entschieden wurde, den Wettbewerb abzuschaffen, da warst du nicht mehr dabei, Rainer. Rasmus, magst du ein bisschen was erzählen zu dieser Entscheidung, den Wettbewerb aufzugeben? Aus meiner Perspektive von jetzt ist das auch eine sehr politische Entscheidung.
Rasmus: Es gab das Argument, Kunst sei eh keine sportliche Wettbewerbsveranstaltung. Und klar, wir finden so ein Bewertungsprinzip falsch, dass ein Film am Ende der tollste ist und alles abräumt, Geld und Aufmerksamkeit. Wir schätzen alle unsere Filmemacher*innen, wollten das Geld fair auf alle verteilen, auch die Aufmerksamkeit. Das ist vor diesem Hintergrund schon eine festivalpolitische Entscheidung gewesen. Uns ging und geht es um den Austausch zwischen den Künstler*innen, dass man ein gutes Gespräch miteinander führt. Und nicht darum, wer am tollsten ist oder welche Filmpremieren man alle hat. Aber klar, vielleicht ist es ein bisschen weltfremd, weil eigentlich alle Festivals diese Wettbewerbe haben. Und Kulturbetrieb heißt ja auch Tradierung: Was wird weitergegeben? Und es ist schon so, dass Filme, die mit einem bestimmten Etikett oder Preis versehen sind, in der Gesellschaft anders oder überhaupt erst aufbewahrt werden.
Rainer: Ich muss dem widersprechen, ganz entschieden. Ich denke, es war ein Fehler zu versuchen, die dokumentarfilmwoche aufzupimpen mit Preis und Jury. Wenn ich das heute noch mal durchdenke, finde ich, dass wir uns deutlich mehr auf den Underground, den es ja als rudimentären immer noch gibt und gab, wir hätten uns auf den beschränken sollen. Es hat möglicherweise auch ein bisschen damit zu tun, dass ich eigentlich dachte, die Camcorder-Revolution würde mehr Revolutionäres produzieren. Aber ich habe den Eindruck, dass auch bei euch Studierenden die Ausbildung seitdem immer mehr auf den Erfolg hin getrimmt wird. Du wirst nur wahrgenommen, wenn du Erfolg hast. Was immer auch bedeutet, dass 80 oder sogar 90 Prozent der Sachen, die gedacht und gemacht werden, unbemerkt bleiben. Da ist mir zu viel Nichtwahrnehmung, zumal die erfolgreichen Sachen mitnichten die besten sind. Also ich würde, wenn ich mich heute noch beteiligen würde, eindeutig mehr auf das Beschädigte, auf das Abweichende, auf das nicht in die klassischen Formen des Erfolgs Gegossene gehen – das würde ich zu meinem klaren Lieblingsschwerpunkt machen.
Rasmus: Das ist doch ein gutes Plädoyer.
Rainer: Ich wollte das nicht als Plädoyer verstanden wissen, sondern als eine Bemerkung aus meiner Biografie.
Eva: Und sehr schöne letzte Worte. Vielen Dank euch für das Gespräch, Rainer und Rasmus!
- Trafen sich zum Gespräch: Eva Kirsch, Rainer Krisp und Rasmus Gerlach
- Kino 3001
- Treffen des Festivalkollektivs im Schrebergarten 2011
- Fotograf Günter Zint und Felix Grimm (r.) nach dem Film ›Eins in die Presse‹ im Jahr 2007
- Wo kam die Frage her? Rasmus Gerlach, die Filmemacherin und Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen sowie Klaus Wildenhahn halten Ausschau (2008)
- Das Team schippert mit dem Boot von Rainer Krisp auf der Elbe, 2010
- Das traditionelle Filmemacher*innenfrühstück 2015
- Nach der Eröffnung 2015: Feiern an der mobilen Bar
- Duisburg im Lichtmess: Werner Ružička mit Carsten Knoop 2010
„Für immer bleiben" – eine Analyse zum dokumentarischen Hybrid von Birgit Glombitza
Vor- und Zurückgespultes zum dokumentarischen Hybrid: aus den Beständen der dokumentarfilmwoche hamburg
Ein sechs Minuten langer Blick durch ein halb geöffnetes, staubverschliertes Seitenfenster. Eine schwarz-weiße Fahrt durch ein Dorf, ein Motorradfahrer grüßt und überholt, die Fahrerin reicht ein paar Arbeitern Schnaps. Ihr Casting Sheet fällt herunter. Sie kutschiert Regisseur Aleksey Lapin und seinen Kameramann, die einen historischen Film über Jutanovka an der ukrainisch-russischen Grenze drehen wollen. Lapin hat Teile seiner Kindheit hier verbracht. Team und Fahrerin sprechen über die seltsamen Tage, an denen die Maschinen nicht funktionieren und die Menschen komisch werden. Und über das Filmprojekt: „Gehen wir zurück, oder bleibt ihr für immer?“ – Lapins ›Krai‹ (2021) lässt einen Ort aus Konstruktion und Zufälligkeiten entstehen, ähnlich den fotografischen Fixierungsversuchen der Erinnerung. Der gescriptete Historienfilm ist eine Scharade, um dem Ort und seinen Menschen näherzukommen und sie schließlich in ein weiteres Drehbuch einzuspannen, das sich erst filmend, vertonend, schneidend fortzuschreiben scheint. Die Übergänge von Kontrolliertem, Erdachtem und Vorgefundenem sind kaum zu ertasten. ›Krai‹ ist ein semidokumentarischer Film, eine Doku-Fabel, ein Hybrid, wie dieses Mischgenre behelfsweise kategorisiert wird, und das seit einigen Jahren so häufig auftaucht, dass es als Statement über Welt und Abbild unbedingt ernst zu nehmen ist.
Mit Hybriden wie ›Krai‹ (2021), ›L’îlot – Like an Island‹ (2022) von Tizian Büchi; ›The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin)‹ (2020) von C. W. Winter und Anders Edström und unzähligen anderen kommt zudem, je nach surrealer Ausprägung, eine Sehnsucht zum magischen Denken ins Filmbild, wie es auch zunehmend in experimentelleren Spielfilmproduktionen auftaucht. Ganz so, als bekäme Walter Benjamins Idee von den Dingen (»Angelus Novus«), die ihre Präsenz und Wahrheit quasi von sich aus in Sprache und Abbildern einprägen, hier eine neue filmische Entsprechung. Mindestens aber bedeuten diese Doku-Fiktionen eine Herausforderung von gattungsbegrifflichen Abgrenzungen. In ihrer Fluidität, auch im Hinblick auf politökonomischen Wandel, scheint ein instabileres Welt- und Subjektempfinden Platz zu finden. Klimakrisen, Kriege, Epidemien, Arbeits- und Lebenswelten formen ein nachgiebiges Ich, selbst eine Collage aus Fragmenten, das sich ständig wandelt, umtopft und bereithält.
So denkt Richard Sennett den »flexiblen Menschen« und seine psychologischen Bedingungen in einer kurzfristigen und stets gefährdeten Arbeitswelt: „Die Gleichgültigkeit des alten klassengebundenen Kapitalismus war grob materiell; die Indifferenz, die der flexible Kapitalismus ausstrahlt, ist persönlicher, weil das System selbst weniger definiert ist, in seiner Form weniger lesbar.“ Moderne Firmen präsentieren sich ortlos, sie existieren nur als Knotenpunkt im globalen Netz. Eine Fabrik in China, IT in Bombay, Verwaltung in London. Sie sind da und gleichzeitig nomadisch, erscheinen als Simulation mit Kontaktmailadresse. Auch in diesem phänomenologischen Empfinden von Leben und Arbeit ist die Hybridisierung der Abbilder in gewisser Weise nur konsequent. Mit dem Anspruch auf Realität und gesellschaftspolitische Bezugnahme kommt das Dokumentarische zunehmend in den Installationen der Gegenwartskunst und in den Narrativen des Spielfilms zum Einsatz. Postkolonialismus-, Gender-, Rassismus- und Klassismusdiskurse weisen zudem auf eine diesen überfälligen Ermächtigungen noch nicht gerecht werdende Sprache hin. Die des Films inklusive.
Rewind
Was bedeutet das nun für eine wie auch immer sich darstellende dokumentarische Wahrheit? Was ergibt sich daraus für den Umgang mit ihren eigenen Mythen? Zum Beispiel dem Mythos des echten Lebens, der Echtzeit, des unverstellten Blicks, der unbelasteten Information? Jedes Nachdenken über das Dokumentarische, das Kino und seine Abbilder der Welt scheint irgendwie immer bei André Bazin zu landen. Bei dem Gedanken, dass der Film die Welt eher abdecke, als dass er sie sichtbar mache. In seinem Aufsatz »Ontologie des photographischen Bildes« sieht Bazin in der Mumifizierung den Ursprung der bildenden Kunst. In dem Versuch, den Tod symbolisch zu überwinden und das Leben zu konservieren. Auch für Siegfried Kracauer ist die Fotografie ein Gespenst, das dem Wirklichen nur „in einem gewissen Umfang Einlass gewährt“. Also, schauen wir noch einmal auf die Basics.
Schon klar: Es ist nicht die Welt, die wir im Kino sehen. Es ist die Aufzeichnung eines nicht menschlichen Auges, das die Resultate der eigenen Bewegung aufspürt und in ihr die der Dinge. Dziga Vertovs „Ich sehe“ ist die Stimme des Apparats, der nach einem von menschlicher Intentionalität weitgehend abgekoppelten Schauen sucht und über eine für den Menschen unmögliche Wahrnehmung zu sich selbst als Maschine findet. Kein medialer Dekonstruktivismus in diesen Babyjahren des Kinos, aber einer des menschlichen Blickes, der in der optischen Prothetik des Aufzeichnungsapparats erst die Welt, so hat Vertov es sich jedenfalls gewünscht, sehen lernt.
Die Kamera ist schneller, detaillierter, kann aus Höhen springen, in Tiefen versinken, ihre mechanische Intaktheit riskieren. Im Schnitt lassen sich dann die sonst unsichtbaren Bezüge der Einzelteile zu einer nur durch den Film herstellbaren Ordnung fügen. Losgelöst von menschlicher Sehkraft schafft die Kamera in Kooperation mit Montage und Postproduktion Erzählungen über die Welt. Erzählungen, in denen dramaturgische Strategien des Fiktionalen wie des Dokumentarischen wirken, über deren Konturen und Verlässlichkeit wir uns längst schon nicht mehr im Klaren sind. Und natürlich ist das Kameraobjektiv ein Kamerasubjektiv. Eine ideologische Icherzählerin, die eine komplexe Welt so strukturiert, dass sie sehend in ihrem Sinne verstanden werden kann. Eine Fabuliererin, die vorgibt, tiefer durch die Matrizen des Realen zu dringen, Ungesehenes zutage zu fördern und doch gar nicht anders kann, als dabei eigene Politiken des Authentischen zu verfolgen.
Bereits durch den Prozess der Aufnahme ändert sich die Welt – und mit ihr die Wahrheit. Erstere wird immer Spuren der filmischen Herstellung tragen, Letztere wird zur Bildkonstruktion. Chancen auf Autonomie erhält das Bild erst durch die Betrachtung. Je länger diese dauern darf, je stärker wächst die Bedeutsamkeit des Fotografierten, desto größer wird dessen Autonomie. Und wenn sich gar nichts mehr abspielt, wie in den Arbeiten von Andy Warhol und Fluxus, gibt es nur noch Staub, Licht und Material, in aller Unschärfe, die gesehen werden wollen. Konnte man lange glauben, in dieser Reduktion den letztgültigen Punkt des Authentischen auszumachen, wird auch das zweifelhaft, wenn diese Unschärfen – nun allerdings im Digitalen – wiederum zur Inszenierung von Echtheit in die Nachrichtenkanäle eingespeist werden. Glitchende Handybilder als Vor-Ort-Zeugen in Kriegsgebieten, nichts Weltlichem ähnelnde Flächenbilder von Drohnenflügen, die das für sie Motivische im Fadenkreuz einfangen. „Wer sich in diesen Beutezügen tarnt, tut es als unscharfes Bild“, wie Hito Steyerl in »Die Farbe der Wahrheit« schreibt. Paradoxerweise, so Steyerl, liegt die Aura des Authentischen genau in dieser Unkenntlichkeit. Ein Pixel, ein Impuls eines Aufzeichnungsapparats, der keinen dinglichen Weltbezug mehr braucht. Das Dokumentarische als Bild der Welt hat in dieser kulturellen Praxis nichts mehr verloren. Und wieder deckt sich Bazins Cache wie die Nacht über Gattungsbegriffe des Fiktionalen und des Dokumentarischen.
So wie der Spielfilm als Dokument von arbeitenden Schauspielenden, aufnehmenden Kameras und endfertigender Montage verstanden werden kann, ist auch der Dokumentarfilm ein Dokument seines Gemachtseins. »Fabulation« bekennt sich in diesem Sinne zu seiner individualisierten Entstehung, zum geformten Blick, zur gescripteten Sprache, die das Erforschte und Betrachtete „zu einer radikal situierten schöpferischen Erfahrung“ transformiert, wie Julia Bee in ihrem Aufsatz »Erfahrungsbilder und Fabulationen« notiert. Eine Erfahrung als Wahrnehmung und Praxis der Bilder, so Bee, als etwas, das sich ohne Kamera nicht ereignen wird. „Der Film wird zum Erfahrungsbild einer Illusion, nicht Zugang zu einer; sondern auch Teil einer möglichen Welt.“
Aller Illusion zum Trotz ist das Bestehen auf Wahrhaftigem ein Anliegen institutioneller Glaubensgemeinschaften. Aufgeregte Debatten über Filme, die womöglich ihr Gescriptet-Sein, ihre Herstellungsdispositive verkleiden, gehen nicht selten von einem normativen „Sollen“ und „Müssen“ des Dokumentarischen aus, das sie verpflichtet sehen, ihr exklusives visuelles Begreifen zu vermitteln und ein historisches Dokument zu erzeugen. Da wird an ein vorbewusst sehendes Publikum geglaubt, das den Dokumentarfilm für ein Versprechen auf Wahrheit hält. Und nicht für eine Materialsammlung.
Die mögliche Wahrheit dokumentarischer Bilder liegt jedoch nicht in ihrem visuellen Wissen von etwas. Sie liegt maximal in ihrem formalen Ausdruck. Der dokumentiert die Ungewissheit der Repräsentation ebenso sehr wie ihr Stadium der Bildfindung. Ein Bild kann mit der Realität übereinstimmen, und zwar mit der des Ereignisses und mit der, die auch außerhalb einer laufenden Kamera ontologisch besteht. Oder eben nicht. Seine Form wird Auskunft geben. Über den Kontext, die Herstellung und deren Bedingungen. Eine Mimesis des Dispositivs, wenn man Foucault eine Freude machen möchte, die unhintergehbar ist. Das dokumentarische Bild mag ohne Ende manipulieren, aber über sein Gemachtsein kann es nicht lügen. Auch wenn manche Produktionen erst im Abspann ein Drehbuch oder einen Cast offenlegen, weil sie genau mit diesem Vexierspiel unser Empfinden von Bild und Abbild herausfordern möchten. In der Form liegt vielleicht das Scharnier, an dem die Diskussion um den dokumentarischen Film wieder zurück zu einer belastbaren Frage nach Bedeutung klappen kann.
Fast forward
Narrative Mischformen zählen seit Beginn der Filmgeschichte zum cineastischen Repertoire. Auch ›La Sortie de l’usine Lumière à Lyon‹ (1895) der Brüder Lumière ist in nicht unwesentlichen Teilen ein verhohlener Imagefilm der Fabrikantenfamilie. Doch die Amalgame von Fiktion und Dokument, Vorge- und Erfundenem der vergangenen Jahre nehmen – in gelungenen, medienreflektorischen Fällen jedenfalls – bewusste Irritationen in Welt- und Subjekterzählungen vor und erproben damit auch die Erschütterung der Gattung selbst. Im Hybriden scheint sich das Dokumentarische in Blickentfernung zu sich selbst zu begeben. Ein Abstand muss offenbar her, vielleicht kann der nur zeitlich sein und erst im filmhistorischen Rückblick evident werden. Doch bis dahin werden formalästhetische Experimente der Distanzierung erprobt durch Wiederholungen, Störungen am und im Material, durch bewusste Simulationen von Kunst und Welt, durch Text und Inszenierung. Hier beginnt der Streifzug durch das Repertoire der dokumentarfilmwoche hamburg.
Da gibt es Filme, die fangen von vorn an. Bei Robert J. Flaherty etwa und der ethnografischen Geste, die sich Jan Peters’ ›Eigentlich eigentlich Januar‹ (2022) ausdrücklich borgt, wenn er sich mit Familie beim Iglubau zeigt, oder die eigene Persona, diverse Repräsentationen stagend, in vermeintlich ablaufenden Filmspulen der Endlichkeit und vergleichsweise sanften Witterungen auf Berliner Jahresendpartys oder einem Urlaub in den Schweizer Bergen überstellt. Die Geschichte, auch die eigene, wird zerlegt, sortiert und nach allen Regeln des Dramaturgischen gebaut. Gilles Deleuzes „Fabulation als ein Werden in der Zeit“ wird im peterschen, vom Material selbst immer wieder unterbrochenem Plaudern, zur ironischen Sabotage jeden „Werdens“. Andere gehen zurück zur Vermessung der Welt und ihren bis heute wirksamen kolonialistischen Effekten. ›Constant‹ (2022) von Sasha Litvintseva und Beny Wagner ist (re-)enactete Erzählung von sich die Welt aneignenden Einheiten und ihren herrschaftswissenschaftlichen Aufbewahrungen. Oder sie fokussieren sich auf die Vertikale wie die furiose Absturzstudie ›In Free Fall‹ (2010) von Hito Steyerl. Der Film, ein Hybrid aus Footage, Essay-Narrativ, Militär- und Hollywoodmythen, findet in den Konturen diverser Flugzeugabstürze auch Entsprechungen für wirtschaftliche Crashkurven. In dem Vortrag »In Free Fall: A Thought Experiment«, den Steyerl am 6. November 2010 im Rahmen des »2nd Former West Congress: On Horizons: Art and Political Imagination« an der Technischen Universität Istanbul gehalten hat, fügt sie nun die andere Koordinate, den Horizont, hinzu. Von der zentralperspektivischen Flucht, den Weltquadrierungen der Renaissance, der simulierten Himmelslinie im Dashboard der Pilot*innen bis zu ihrem Verschwinden in den Crash- und Drohnenbildern des Militärs und der Unterhaltungsindustrie entsteht eine Geschichte von Ermächtigung und Auflösung. Eine Auflösung in der militärischen Optik der Flächen und Böden, präpariert für die Perspektive eines Menschen, der mit dem Aufprall stirbt oder optisch quasi ermächtigt außerhalb aller Horizonte gottgleich „floatet“.
Slow forward
Wird die Inszenierung wie das dokumentarische Bild in gleicher Weise ernst genommen, scheint sich das Dazwischen, also gewissermaßen die Lücke im Zeugnis, für klassische Elemente der Entfremdung geradezu anzubieten. Am Anfang von ›If It Were Love‹ (2020) von Patric Chiha sehen wir ein Tanzstück, das auf der Bühne filmische Mittel wie Slow Motion, Zeitraffer oder Schnitt nur mit dem Rhythmus von Körpern, Musik und Raum simuliert. So gut, dass man auf jedes Haar schaut, um eine Manipulation in der Zeit auszumachen. Das In-der-Kamera-Schneiden wird zum In-der-physischen-Bewegung-Schneiden. Erst mit der Unterbrechung der Probe ist das zu verstehen, und wir erkennen ein Ensemble beim Einstudieren der Rollen, beim Legendisieren des diegetischen Raums ihrer Figur, beim Üben der Choreografie. Klassische Elemente der Entfremdung sorgen für eine nachhaltige Wechselwirkung vom Bericht einer Probe mit denen gestageter Affekte. In einer weiteren Ebene werden diese Distanzierungen mit einer – jetzt dokumentarfilmischen Nähe – irritiert, wenn wir Backstage von Emotionen der Beteiligten erfahren. Gesprochenes, das sich wie ein verspätetes Off zum zugehörigen Bühnenkörper fügt. Statt Identitäten multiple Erfahrung. Im Transit zwischen dokumentierten Bühnen-, Film-, und Doku-Illusionismen ereignet sich so das eigentliche Sujet.
Ein umwerfendes Beispiel, wie sich durch und mit einer hybriden Form auch ethische Fragen zur visuellen Ethnografie und den filmischen Eingriffen in bestehende Systeme und Topografien stellen, liefert ›The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin)‹ (2020) von C. W. Winter und Anders Edström. Die 480-minütige Arbeit wurde bewusst als Spielfilm ausgegeben. Er spielt in einem kleinen Bauerndorf nördlich von Kyoto, erforscht die Lebenszyklen der Menschen und der sie umgebenden Natur. Winter und Edström lassen dabei einen komplexen Raum des Austauschs entstehen. Zwischen Schauspieler*innen und Nichtschauspieler*innen, Einheimischen und Besucher*innen, Dokument und Fiktion, Bild und Nichtbild. Das Gegebene und das Erfundene scheinen mit der Wirklichkeit und der Erinnerung zu koexistieren. Ein im schönsten Sinne unethnografischer Film.
Ein anderes Beispiel, das das dokumentarische Eindringen in zum Teil hermetisch abgeriegeltes Fremdes, das eigene Entstehen und die Ermächtigung Porträtierter zum Subjekt der Betrachtung mitdenkt, liefert ›Ricardo Bär‹ (2013) von Nele Wohlatz und Geraldo Naumann. Darin befragt der titelgebende Protagonist seine Kirchengemeinde, ob er in diesem Film mitspielen soll. Um seine Mitarbeit günstig zu beeinflussen, beschafft das Autor*innenduo Ricardo ein Theologiestipendium und bietet ihm an, ihn bei seinen Arbeiten auf dem väterlichen Hof zu ersetzen, um ihm (Arbeits-)zeit für ihr eigenes Projekt zu verschaffen. Die Erzählung schließt das Entstehen oder auch das Scheitern des Projekts ein. Ebenso wie die im Off nachgereichten Erinnerungsprotokolle der Autor*innen, die ihr Anliegen, ihre Projektionen und ihr Hadern in diesem eigenen Ton-Narrativ offenlegen.
Mit derart multipel verschränkten, sich auflösenden oder mindestens gefährdeten Narrativen begibt sich das Dokumentarische in eine Revision, in der nicht nur seine Form, seine Historizität, sondern auch das Subjektiv seiner Erzählung erkennbar zur Disposition gestellt wird. Vermittelnde Figuren werden zwischen Projektion und Publikum gestellt, um situierte Perspektiven klar zu etikettieren. Aus ehemalig Inszenierten werden sich selbst ermächtigende Protagonist*innen und sorgen für dekonstruktivistische Filter, durch die Begriffe von Wahrheit und Welt bestenfalls an den Cacherändern des Zufälligen durchblitzen. Wahr ist der kapitale Tauschhandel, so wahr wie die Simulation der Geschichte.
Stop
Eine weitere Technik der Entfremdung liegt in der Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Aufzeichnungsbilds selbst. Vereinzelung, Wiederholung oder auch völliger Leerlauf etwa können zu Strategien für das Dokumentarische werden, sich selbst anzuschauen. In seinem Konzept des „dialektischen Bildes“ betont Walter Benjamin den abrupten Charakter, mit dem ein ebensolches Bild die Spannungen eines historischen Moments plötzlich stilllegt und in dieser so gewonnenen Autonomie (von der bereits anfangs die Rede war) zur intensiven Betrachtung auffordert. Es schafft eine plötzliche Vergegenwärtigung. Der blinde Ablauf der Zeit wird durch einen anderen Rhythmus unterbrochen. Statt Repräsentation vermittelt das „dialektische Bild“ das kurze Aufleuchten einer Gegenwart, die aus jedem Gegenstand herausgesprengt werden könne. In Philip Scheffners ›Havarie‹ (2016) erweist sich das Filmbild als ein Bild, das das Bild kritisiert. Es ist also in der Lage, eine theoretische Wirkung zu erzeugen und dadurch unsere Weise, es zu sehen, in dem Moment des Sehens zu kritisieren. Das Filmbild blickt uns an durch die Zeit, die es dauert, und verpflichtet uns, es auch wirklich zu sehen. In ›Havarie‹ geschieht dies durch das Dehnen eines dreieinhalbminütigen Youtube-Clips in sekundenlangen Einzelbildern auf 90 Minuten. Das Ausgangsmaterial stammt von einem irischen Kreuzfahrttouristen, der ein Boot mit Flüchtenden auf dem Mittelmeer aufgezeichnet hat. Die Spielzeit von ›Havarie‹ dauert dagegen etwa so lange, wie die Seenotrettung der Menschen. Eine Erzählzeit außerhalb des zugrunde liegenden Footage also. Während die in Originalgeschwindigkeit zu hörenden Tondokumente, Funksprüche und nicht unbedingt eindeutig zuzuordnenden Interviews als Erfahrung und Bericht ernst genommen werden, widerspricht die Bildebene dieser Interpretation einerseits in dem Sinne, dass sie das Ausgangsmaterial dem Zeitlichen überstellt. Andererseits werden in der durativen Folie die Einzelnen erst erkennbar und unterscheiden sich voneinander wie die Tonprotokolle der Interviewten. Das Material streitet und kommentiert sich. Auch dies ein Aspekt eines dialektisch wirkenden Filmbildes.
Eject
Der Dokumentarfilm ist in der Lage, in diesem Sinne zu bleiben. In der Zeitlichkeit, im legendisierten Raum, in dem Sich-selbst-fremd-Werden. Das Leben ist nicht seine Bild-Mitte, sondern sein äußerster Cache. Wird diese Grenze überschritten, bleibt dem Dokumentarischen bloß noch das Ähnlichsein. Dann ist es in Benjamins Augen nicht mehr Kunst. Vielleicht muss der Dokumentarfilm damit klarkommen, wenn’s gut läuft, Kunst zu sein.
Birgit Glombitza ist freie Filmautorin, Dramaturgin und Dozentin. Von 2010 bis 2018 war sie künstlerische Leiterin des Kurzfilm Festivals Hamburg.
- ›Krai‹ von Aleksey Lapin (2021)
- ›If It Were Love‹ (Patric Chiha, 2020)
- ›Eigentlich eigentlich Januar‹ von Jan Peters (2022)
- ›In Free Fall‹ von Hito Steyerl (2010). Quelle: sixpackfilm
- ›The Works and Days‹ von C. W. Winter und Anders Edström (2010)
- ›Havarie‹ von Philip Scheffner (2016)